Ich habe schon immer gerne, auf Wanderungen oder bei Spaziergängen am Strand, schöne und bizarr geformte Steine aufgelesen und in meinen schon ausgebeulten Taschen nach Hause getragen. Dort hat mancher noch heute, geputzt und poliert, einen Ehrenplatz inne.
Schon oft hat es mir auch bei Ausflügen ins Netz in den Fingern gejuckt, die eine oder andere der digitalen Preziosen aufzuheben und an einem gesonderten Plätzchen zu bewahren. Hier sind nun einige davon.
Here is Water
Was immer man von der Prosa David Foster Wallaces halten mag: Die Rede, die er vor den Absolventen des Kenyon College 2005 gehalten hat, ist ein Kleinod -- in rhetorischer Hinsicht, weil ja doch eine solche Rede immer ein Hochamt dieser gefährdeten Kunst sein soll, aber auch und gerade hinsichtlich der Botschaft, die der Redner den Zuhörern mit auf den Wege geben will. Ein wunderbares Stück alltagstauglicher Philosophie und tatsächlich eine "Anstiftung zu Denken", wie es im Untertitel der gedruckten deutschsprachigen Wiedergabe heißt. Gewiss aber nicht noch eine weitere Anstiftung, über das Leben nachzudenken, sondern eine Anstiftung, mitten im Leben nachzudenken: Die Fähigkeit zu denken, die man durch Bildung erwirbt, so könnte man Foster Wallaces These verkürzt zusammenfassen, ist nämlich die Fähigkeit, sich auf eine selbstbestimmte Weise zur Welt zu verhalten. Und wäre es eine theoretische Abhandlung, dann wäre vielleicht wenig Überraschendes daran. Die Bilderflut, in der der Autor jedoch die Konsequenzen dieser These sichtbar macht, ist eindrucksvoll und -- im Wortsinn -- bewegend. Wer des Englischen nicht so mächtig ist, findet hier eine deutsche Variante. Und wer den Text nachlesen möchte, kann hier Hilfe finden.
Die Internetseite sieht zwar aus wie ein ClipArt-Museum aus der Frühzeit des HTML 1.0, steht auch nur auf Japanisch, Serbisch, Portugiesisch und Chinesisch zur Verfügung, die Sammlung optischer Illusionen auf Akiyoshi's illusion pages aber ist einzigartig und unbedingt einen Besuch wert.
Das ist digitale Textverarbeitung, konsequent zuende gedacht: Mehr als den eigenen Namen muss man nicht schreiben können, den Rest macht SciGen, der automatische Computer-Science Paper-Generator. Fortgeschrittene schreiben gleich noch ein paar Namen mehr. Dann ist es nur noch ein Mausklick bis zur fertigen Fachpublikation. Das Programm kümmert sich um die korrekte Grammatik, die Wörter werden eher hinzugewürfelt. Damit lassen sich nicht nur Freunde und Bekannte beeindrucken. Dass sich durchaus auch auf Tagungen Applaus damit ernten lässt, zeigen die Autoren des Programms auf ihrer Seite.
Anne Teresa De Keersmaeker in "Fase4" zur Musik von Steve Reich. Und auch der Filmemacher Thierry De Mey verdient Erwähnung.
Dies ist ein Ausschnitt eines breiteren Panoramas, das Mohammadreza Mirzaei, ein junger Teheraner Fotograph, mit der Kamera gezeichnet hat. Das Bild in seiner ganzen zauberhaften Breite sowie weitere wunderbar gelungene Serien gibt es in einer Online-Präsentation des Künstlers.
New York und Paris in flüchtigen Reflexen. Robin Soulier hat mit einem wunderbaren Auge ganz besondere Ansichten eingefangen und festgehalten. In seiner Galerie sind sie eindrucksvoll präsentiert. “When the world is puddle-wonderful ...”
Dieser Mann (der in der Mitte) kommt viel herum − um dann wieder zu verschwinden. Die zauberhafte Konzeptfotographie von Liu Bolin kann man sich hier ansehen.
Warum die alten Dampflokomotiven so ein seltsames Gestänge außen an den Rädern haben und welche Rafinesse in einem Zweitaktmotor steckt, haben mir erst die sehr einfachen, auf die wesentlichen Vorgänge reduzierten Animationen von Klaus Wetzstein deutlich gemacht. Die Grafiken sind zwar zum Teil noch − in datentechnischer Zählung − hochmittelalterlich (1999), aber womöglich gerade darum so leicht erschließbar wie ein hölzernes Uhrwerk aus dem 11. Jh.
Von den Aufnahmen für einen Film über Obdachlose ist dem britischen Komponisten Gavin Bryars der Mitschnitt eines religiösen Singsangs übrig geblieben, den einer der Interviewten spontan angestimmt hatte. Die 26 Sekunden lange Tonspur – in einem schier unendlichen Loop immer und immer wieder wiederholt – bildet die Grundlage dieses wunderbaren Stücks Minimal Art aus dem Jahre 1971. In Bryars Kommentierungen dieses Werks findet sich übrigens kein Hinweis auf religiöse Absichten. Er bekennt aber, beeindruckt zu sein von dem schlichten, aber glücksgewissen Gottvertrauen des trunkenen Sängers.
Loan Nguyen ist eine schweizer Fotographin mit vietnamesischen Wurzeln, die ihre Bilder wunderbar komponiert und sich dabei − wie auf diesem Beispiel − selbst gern schräg in Szene gesetzt hat.
Die Homepage von Madame Loan zeigt sie bei der Arbeit und ist allemal einen Besuch wert.
Klar, Avantgarde-Jazz steht nicht unbedingt im Ruf, spritzig, funkig oder sogar tanzbar zu sein. Steve Coleman aber ist ebenso von Charlie Parker und John Coltrane inspiriert wie von James Browns legendären “The J.B.’s”. Was er draus macht, gehört sicher mit zum Spannendsten, was man sich so auf den MP3-Player laden kann. Erfreulicherweise hat der Alt-Saxophonist nicht nur seine ganz eigenen Vorstellungen übers Musik-Machen, sondern auch über den Musik-Vertrieb. Darum hat er auf seinen Internetseiten etliche seiner Album zum Download bereitgestellt. Mein Favorit: Def Trance Beat − mit einem genial aufgelegten Gene Lake hinter dem Schlagzeug.
John Coltranes "Giant Steps" war das Highlight auf meiner allerersten Jazzplatte -- und es hat dann noch lange gedauert, bis mir klar war, dass ich mich gleich in einen der ganz großen Klassiker verliebt hatte. Hier kann man die großen und kleinen Tonschritte beim Sprint über das Notenblatt verfolgen. Für diese beeindruckende Bastelarbeit gebührt dem Macher Dan Cohen höchstes Lob.
Anne Teresa De Keersmaeker Choreographie zur “Piano Phase” von Steve Reich − Minimalismus in großer Vollendung.
Orson Welles’ legendäres Hörspiel aus dem Jahre 1938 lässt sich in voller Länge vom Server des Internet Archive streamen oder herunterladen. Gerade weil alles so ein bisschen blechern klingt wie damals im Röhrenradio ist das Öffnen dieser alten Audiokonserve besonders eindrucksvoll.
Der im Wikipedia-Artikel zum Hörspiel geäußerten Skepsis an der Massenflucht vor den angreifenden Marsianern sollte man übrigens misstrauen: Die Story ist einfach besser, wenn man dran glaubt. Es wird schon wirklich alles so gewesen sein, wie es Woody Allen in "Radio Days" darstellt.
Die Gesellschaft der Wolken-Bewunderer
Die Homepage der Cloud Appreciation Society. Staunenswerte Bilder von nichts als Wasserdampf und Himmelsgespinst. Unter uns: Ich habe die Mitgliedsnummer 27395.
Leider nur mit einem piepsigen Midi-Sound, aber optisch doch ansprechend gemacht: Eine Illustration des Krebs-Kanon aus Bachs Musikalischem Opfer.
Nochmals: Die Welt im Wasserspiegel, farbig, graphisch, spielerisch. Spätestens beim Blick auf Jessica Backhaus’ Serie “I wanted to see the World” bestätigt sich der Verdacht: Zum Baden ist Wasser viel zu schade.